„Kings of Nowhere“ von T.J. Forrester

IMG_20131015_102923„Wandern“ – da denk ich an Rentner mit Nordic Walking-Stöcken oder Pärchen in identischen Jack Wolfskin-Funktionsjacken. Aber „Hiking“ – das klingt doch gleich viel cooler und sportlicher, nach Abenteuer, Freiheit, Wildnis. In seinem großartigen Hiking-Abenteuer Kings of Nowhere schickt T.J. Forrester seine Protagonisten auf den Appalachian Trail, einem der längsten und härtesten Fernwanderwege der Welt. 3.500 Kilometer durch 14 US-Bundesstaaten. Er widmet seinen Roman „denjenigen, die glauben, die Kraft zu besitzen, ihr Leben zu ändern“.

Sein Leben lang stellte Taz Chavis sich vor, auf einen Güterzug zu springen und sich einfach irgendwohin bringen zu lassen, Hauptsache weg: „Ich träumte nie davon, was ich machen würde, wenn ich ankam, wohin der Zug mich brachte. Alle meine Träume waren Wegfahr-Träume.“ Taz Kindheit in einem Wüstenkaff in Wyoming ist an dem Tag vorbei, als seine Mutter mit einem Ranchbesitzer durchbrennt und ihn mit seinem verkorksten Vater zurücklässt. Der vergast als örtlicher Tierfänger in seinem persönlichen Hunde-Ausschwitz herrenlose Streuner und erträgt sein Leben nur mit Pillen. Was dem Vater die Tabletten sind, das ist Taz das Koks. Er kann die Finger nicht davon lassen. Er geht Hals über Kopf nach Atlanta, verliebt sich in eine Junkie-Schönheit und landet von der Gosse im Gefängnis. Hier liest er Bücher über den Appalachian Trail, stellt sich vor wie es wohl ist, durch Berge zu wandern und auf dem Erdboden zu schlafen und sagt sich, dass es auf dem Appalachian Trail kein Koks gibt, dass ihn in Versuchung führen könnte, denn der Trail „hat keine Gosse“.

Simone Decker ist eine arbeitslose Wissenschaftlerin und besessen von den Gedanken an genetisch eingeschriebenen Codes, die unser Leben bestimmen. Ihre Lieblingslektüre ist „How to Become a Completely New Person in Twenty-One Days“ und sie hat das Buch innerhalb von vierzehn Tagen dreimal gelesen. Ihr Verlobter Devon glaubt, dass sie ihre Reise über den Appalachian Trail nur als Verzögerungstaktik für ihre Hochzeit benutzt. Er nennt ihren Thru-Hike deshalb eine 2160-Meilen-Aufschieberei. Was Devon nicht weiß: Er hat es mit einer Mörderin zu tun. Tief im Inneren hegt Simone ein unbändiges Verlangen danach, Menschen in Abgründe zu stoßen. Sie hält es für ein Mord-Gen, das mit ihrer DNA verwoben ist. Für sie ist der Trail nicht nur eine Art Prüfungsparcour auf dem es von hohen Klippen und arglosen Opfern nur so wimmelt, sondern Simone ist davon überzeugt, dass niemand den Trail zu Ende gehen kann, ohne danach derselbe Mensch zu sein: „Sie hofft, der Wandel werde wie ein Vulkanausbruch sein, dessen Glut ihre Gene so schmelzen lässt, dass sie nach deren Erkalten eine völlig andere Person ist.“

Taz und Simone sind nur zwei der „Kings of Nowhere“, denen der Leser in dieser melancholischen On the Road-Novel vor spektakulärer Naturkulisse begegnet. Selbst die kleinste Nebenfigur ist mit so viel Liebe fürs Detail erdacht, dass sie mit ihrer Geschichte ganze Bände füllen könnte. So wie beispielsweise auch Richard aus Montana, dessen Familie ein indianisches Gen in sich trägt, das alle fünfzig Jahre zum Tragen kommt. Er ist das Ebenbild eines Blackfoot-Indianers, während der Rest seiner Verwandten blondes Haar und blaue Augen haben. Er trinkt, weil er das Reifengeschäft seines Vaters übernehmen soll und Reifen hasst, vielleicht aber auch, weil er ein Alkohol-Gen in sich trägt und Widerstand sowieso zwecklos ist.

Obwohl die Romanfiguren sehr unterschiedlich sind, hadern sie alle mit demselben Konflikt: Können sie von ihrem vorgezeichneten Weg abweichen oder kann keine noch so lange Wanderung etwas daran ändern? Eindeutige Antworten auf diese Frage liefert der Roman nie, aber der mythische Appalachian Trail wirkt wie ein Brennglas auf die Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen, die wie eine wogende Welle nach Norden rollen: Hiking als spiritueller Selbsterfahrungstrip, als körperliche und seelische Grenzerfahrung, zurückgeworfen auf die Natur und sich selbst. T.J. Forrester weiß, wovon er schreibt, wenn er von schmerzenden Kniegelenken, ungewaschenen Achseln und muffigen Waldherbergen erzählt. Der Autor ist selbst schon viele Fernwanderwege gelaufen, was man seinen glaubwürdigen Schilderungen von Land und Leuten unbedingt anmerkt.

Besonders überzeugt hat mich jedoch seine poetische Sprache, die zwischen Schwermut und Zuversicht oszilliert, und die Dinge selten direkt beim Namen nennt, sondern stattdessen gewaltig schöne Bilder findet: „Auf der Straße waren Freunde wie Pappbecher. Manche wurden plattgedrückt, andere vom Wind weggeweht. Nichts war für die Ewigkeit. Das sind „Lupen aufs Leben“. Und ich hatte aus aktuellem Anlass ständig Casper mit „Hinterland“ im Ohr, als ich diesen Roman gelesen habe. Dieses Gefühl von Unterwegs sein, Getrieben werden und nie Ankommen können oder wollen, weil das Aufgeben bedeutet. Lieber Knie aufschlagen, aufstehen und weiterrennen. Das ist mehr so die Taz-Attitüde im Roman.

Wenn ich allerding an die weibliche Romanheldin Simone denke, dann habe ich das Gefühl, Amanda Palmer hat eigens für sie den Song „Runs in the Family“ geschrieben, der ihr Dilemma von verhängnisvoller Vererbung auf den Punkt bringt. Viel Spaß beim Hören und Lesen!

13 Kommentare zu “„Kings of Nowhere“ von T.J. Forrester

  1. Danke für diese tolle Rezension, die mich auf ein Buch aufmerksam gemacht hat, das bei mir ansonsten wohl „untergegangen“ wäre. Es wandert gleich auf die Wunschliste und ich freue mich schon sehr auf die Lektüre. Ich danke dir auch für den zur Lektüre passenden Musiktipp, da deine Tipps mich immer wieder auf mir neue und unbekannte Musik aufmerksam macht … 🙂

    • Hey Mara, vielleicht noch der schöne Hinweis: Amanda Palmer ist die Frau von dem Schriftsteller Neil Gaiman (über diesen Umweg habe ich sie entdeckt). Ich muss gestehen, dass ich die Blumenbar-Titel in letzter Zeit sehr schwach fand, aber „Kings of Nowhere“ ist wirklich ein Geheimtipp – der hoffentlich keiner bleibt!

  2. Danke für die schöne Rezension Karo. Der Apalachian trail ist sicher kein Wandern mehr, das ist schon Trecking… Ich glaube, 2 Bücher habe ich mindestens schon gelesen, die den trail beschreiben – das ist nicht „Ohne“! Witziger Weise ist der trail wohl beliebt bei Nacktwanderern… Das finde ich etwas seltsam, aber vermutlich lustig 🙂
    Das der Autor scheinbar viele Eigenschaften von Menschen an den Genen festmachen will, finde ich strange. Das klingt mir zu sehr nach passender Ausrede und ich glaube auch nicht, daß das so ist.
    Liebe Grüße von Stefan

    • Lieber Stefan, ich habe mich in Folge meiner Recherchen für das Buch auch mit Wandern, Hiking, Trekking auseinandergesetzt, aber blicke da nicht wirklich durch. Im Roman ist aber immer vom „Hiking“ die Rede. Und tatsächlich hat Romanfigur Richard, der Pseudo-Indianer, eine Schwäche dafür, sich auszuziehen – das ist dann wohl ein Insiderwitz 😀 Was das Genetik-Thema angeht: Das ist ja nicht die Meinung des Autors, sondern seiner Protagonistin Simone, die Biologie und Genetik studiert hat und ganz klar zum Fatalismus neigt. Aber sie ist ja nur eine Stimme im Roman, deshalb kommt es in meiner Rezension vielleicht zu krass rüber, ist aber nicht so 😉

      • Hm – aber der Indianer trägt doch auch das Alkohol-Gen in sich und sich „wehren ist zwecklos“… Stammt der Spruch dann auch von Simone?
        ***schau verwirrt***
        Ich geh‘ mich dann mal ausziehe…
        Ich muss noch ne Runde mit dem Hund. Lol

      • Ich verstehe deinen Einwand, aber habe es im Roman eher ironisch gelesen – die volle Klischeebreitseite.
        Ach, und vergiss deinen Schal nicht. Is‘ kalt draußen!

  3. T.J. Forrester kannte ich bis grade eben gar nicht, aber das scheint ein tolles Buch zu sein, kommt sofort auf die Liste der must haves – eine echte Katastrophe ist das mit diesen Bücherblogs, wir müssen demnächst umziehen und da kann ich doch nicht noch mehr ‚Gepäck‘ machen… In diesem Sinne trotzdem vielen Dank für diese absolut verführerische Besprechung.
    Liebe Grüsse, Kai

    • Hallo Kai, nichts schmückt einen Raum derart wie Bücher. Sie sehen nicht nur viel intelligenter aus als ein Flachbildfernseher, sondern sie machen ein Haus oder eine Wohnung auch zu einem Zuhause. Gut, das tun herumliegende Sportsocken oder Chipskrümmel auf dem Couchtisch auch, aber falls du zweifelst, schau dir zum Beispiel die Wohnung von Frédéric Beigbeder ein: http://theselby.com/galleries/frederic-beigbeder/ und sag mir, dass du da NICHT einziehen möchtest!?! Na, überzeugt? 😉 Lg, Karo

  4. Auf der Suche nach „neuem“ Lesestoff über den Appalachian Trail bin ich hier gelandet. Danke, wandert auch auf meine Wunschliste. Hoffe nur, dass niemand aus meinem Umfeld das Buch entdeckt, sonst werden die Gegenargumente, warum ich den AT nicht hiken sollte, nur noch lauter. 😉
    (Was ich nicht immer verstehe ist, warum deutsche Titel oftmals englisch sind, wenn es nicht der Originaltitel ist, hier „Black Heart on the Appalachian Trail“. Aber das nur am Rande.)
    Liebe Grüsse, Kerstin

    • Hi Kerstin, mmh… trotz Mord, Totschlag, Regen und Muffelachseln hat der Roman mir Lust auf das Hiken und den Appalachian Trial gemacht. Vielleicht solltest du „Kings of Nowhere“ (ja, stranges Phänomen diese Anglizismen) den Zweiflern mal zum Lesen geben – oder wir sind beide unzurechnungsfähig 😉 Lg, Karo

      • Hallo Karo, unzurechnungsfähig ist ein guter Anfang, um sich auf einen derartigen Trip zu begeben. 🙂
        Trotzdem und gerade deswegen steht auf meiner Lebensagenda. Viele Grüße, Kerstin

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