„Blau ist eine warme Farbe“ von Julie Maroh

Maroh_Blau ist eine warme FarbeBei den internationalen Filmfestspielen von Cannes kam es im Mai 2013 zum Eklat, weil der lesbische Coming out-Streifen „Blau ist eine warme Farbe“ die Goldene Palme, den Hauptpreis des Festivals, abstauben konnte. Zu pornografisch, fanden einige Zuschauer und verließen teilweise den Kinosaal. Die Kritikerjury dagegen setzte mit ihrer Entscheidung ein Statement gegen die gleichzeitig laufenden Proteste im Land gegen die Homo-Ehe. Was viele nicht wissen: Der Film von Abdellatif Kechiche über die Schülerin Clementine, die sich in die Kunststudentin Emma verliebt, beruht auf der ebenfalls preisgekrönten Graphic Novel Blau ist eine warme Farbe (im Original: Le bleu est une couleur chaude) von Julie Maroh. Überraschenderweise zählt die heute 28-jährige Französin zu den Gegnern der Filmadaption.

Blau ist eine warme Farbe_SeiteDenn die Comic-Künstlerin, die selbst Frauen liebt, ärgerte sich auf ihrem Blog über Kechiches Inszenierung des Liebesaktes zwischen den beiden Protagonistinnen. Das habe recht wenig mit der Realität zu tun, sondern eher damit, wie heterosexuelle Männer sich eben Lesbensex vorstellen würden. Auch in Marohs Graphic Novel spielt eine – sehr ästhetische – Erotik eine große Rolle, unterscheidet sich aber im Wesentlichen nicht viel von den Praktiken eines heterosexuellen Paares. Sinngemäß sagt Emma im Comic: „Clem hätte sich auch in mich verliebt, wenn ich ein Junge gewesen wäre.“ Und darum scheint es Maroh auch in der Hauptsache zu gehen: Dass Liebe keine Geschlechtergrenzen oder sexuelle Orientierung kennt. „Die Liebe ist etwas so Abstraktes und Unergründliches. Sie hängt von unserer Wahrnehmung und unseren Erfahrungen ab“, schreibt Clem in ihr Tagebuch.

„Blau ist eine warme Farbe“ ist daher vielmehr Coming of Age- als Coming out-Story, mehr Liebesdrama als Gay Pride-Propaganda. Eher zufällig sind die beiden Hauptfiguren einfach Mädchen. Die Homophobie der Eltern und Mitschüler stellt das gesellschaftliche Hindernis dar, gegen welches das tragische Paar wie einst Romeo und Julia rebellieren muss. Eigentlich ein sehr konventioneller Rahmen, der deutlich macht, wie unbedeutend die Unterschiede zwischen hetero- und homosexueller Liebe im Grunde sind. Es geht nicht um die Lehre einer Toleranz gegenüber Andersartigen, sondern um die Aufhebung des Andersartigen an sich. Das einzige Hindernis, welches die beiden Liebenden nicht überwinden können, ist der Tod. Was bleibt, ist Reue um die vergeudete Zeit, in der sie nicht zu ihren Gefühlen gestanden haben, und Dankbarkeit, die große Liebe überhaupt erlebt zu haben. Blau ist eine warme Farbe_Seite2

Vor allem ist dieses Kunstwerk einfach schön anzuschauen. Hohe Wangenknochen, große ausdrucksstarke Mandelaugen, schmale Taillen – Julie Marohs feminine Heldinnen widersetzen sich dem Klischee der Kampfemanze, sehen aber auch nicht wie Supermodels aus. Der mädchen-hafte, etwas liebliche aber auch düsterer Stil entspricht perfekt den dargestellten Gefühlswelten.  Weite Strecken sind dabei in warmen Braunschwarzschattierungen gehalten. Einzig Emmas blau gefärbte Haare stechen aus der Tristesse heraus. Sie sind das Erste, was Clem an ihr wahrnimmt, während sie auf der Straße in einer Menschenmasse aneinander vorbeigehen.

Der Grund, warum Maroh die Farbe Blau gewählt hat, ist übrigens ein ganz profaner: Die Farbe harmoniert einfach optisch gut mit Schwarz-Weiß. Zudem ist sie relativ neutral, also nicht mit so viel Symbolkraft aufgeladen wie Grün oder Rot. So kann das Blau in der Geschichte seine eigene Bedeutung entwickeln, nämlich dafür, was Emma für Clementine verkörpert. Eine Irritation, ein Farbtupfer, ein Lichtblick – oder ein „Lebensquell“ wie es in der Geschichte heißt. Auch dieser Comic ist so ein Farbtupfer. Zwischen den häufig harten, puristischen und abstrakten Werken vieler zumeist männlicher Kollegen wirkt dieser blauwarme und wildromantische Mädchen-Comic offen gestanden wie eine kleine Wohltat.

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