„Der Ozean am Ende der Straße“ von Neil Gaiman

deep read_Ozean am Ende der StraßeEs war einmal ein Schriftsteller, der trug am liebsten schwarz und er mochte die alten Mythen und Märchen. Der Schriftsteller war verheiratet mit einer Musikerin, die war kein Kind von Traurigkeit, trug gern bunte Farbe im Gesicht und sonst nicht viel am Körper. Eines Tages reiste die Musikerin über Ozeane hinweg ins ferne Australien, um dort neue Musik zu machen. Da fühlte der Schriftsteller eine tiefe Leere in seinem Herzen. Also schrieb er seiner Frau eine Kurzgeschichte, um die Leere zu füllen. Er wusste, dass sie keine Mythen und Märchen mochte, aber sie mochte ihn. Deshalb beschloss der Schriftsteller, dass die Geschichte für sie nicht von Göttern, Engeln oder Luftschiffen handeln sollte wie seine anderen Geschichten, sondern von einem kleinen Jungen, ähnlich wie er einer gewesen ist. Einem Jungen, der in einem verschlafenen Nest im englischen Sussex aufwächst und der sich zu seiner Geburtstagsfeier (zu der niemand kommt) nicht wie andere kleine Jungs einen Kuchen mit einem Football oder Raumschiff aus Zuckerguss darauf wünscht, sondern mit einem Buch.

Des Weiteren erzählt man sich, dass die Musikerin, deren Name Amanda Palmer ist, schon lange lange wieder zurück bei ihrem Mann, dem Schriftsteller Neil Gaiman, war, als dieser immer noch an der Kurzgeschichte schrieb. Aus der Kurzgeschichte wurde ein Roman und aus dem Roman ein New York Times Bestseller. In Großbritannien sogar „Book of the Year 2013“. Dieses Buch mit dem Titel Der Ozean am Ende der Straße ist so schaurig schön, dass es ganz wunderbar zu Halloween passt oder vielleicht sogar noch besser in die Vorweihnachtszeit, so viel Köstliches wird hier aus bauchigen Töpfen mit dem Holzlöffel vor dem Kaminfeuer verspeist, während es draußen stürmt.

Die Handlung an sich ist gar nicht leicht erzählt. Am Anfang ist noch alles überschaubar. Da kommt ein Künstler mittleren Alters zurück in seinen Heimatort, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Es zieht ihn magisch zur alten Farm am Ende der Straße, wo einst seine Freundin Lettie mit ihrer Mutter und Großmutter lebte. Hinter dem Gehöft aus rotem Backstein setzt er sich an den Ententeich, den die kleine Lettie damals ihren „Ozean“ nannte. Ab da prasseln die Erinnerungen wie Regentropfen auf den Mann ein: Wie ein australischer Opalschürfer, der bei seinen Eltern zur Untermiete wohnte, erst sein Kätzchen überfuhr und dann sich selbst umbrachte, wie dieses Ereignis ein Ungeheuer aus einer anderen Welt anlockte, wie Lettie Hempstock versuchte, dieses „Ding“ zu bannen und alles schief ging, weil der Junge für einen kurzen Moment ihre Hand losgelassen hat…ab da wird alles phantastisch, unheimlich und großartig zugleich.

„Der Ozean am Ende der Straße“ ist ein modernes Märchen für alle Erwachsenen, die heute noch bei einem Waldspaziergang hinter dem nächsten Baum ein Knusperhäuschen vermuten, die sich manchmal nachts von den Schatten in ihren Häusern beobachtet fühlen und in ihren Träumen immer noch  fliegen können. Oder eben auch für Leser, die es so wie der Romanheld halten: „Ich mochte Mythen. Das waren keine Geschichten für Erwachsene, aber es waren auch keine Kindergeschichten. Sie waren besser. Denn sie waren.“

deep read_Ozeam am Ende der Straße Widmung

 

15 Kommentare zu “„Der Ozean am Ende der Straße“ von Neil Gaiman

  1. Ein ganz tolles Buch und eine sehr schöne Rezension! Ich habe es letztes Jahr im Urlaub in Laos in einem winzig kleinen Second-Hand-Buchladen gefunden und mich so gefreut, da es doch gerade erst erschienen war. Hab ich dann am Strand durchgelesen und noch heute rieselt es raus, wenn ich es in die Hand nehme. Werde meine Rezension die Tage mal aus dem Archiv holen und auch hochladen 🙂 Danke fürs Erinnern.

    • Liebe Sabine, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man dieses Buch bei tropischer Hitze am Strand lesen kann, aber was mich noch mehr in Staunen versetzt – du hast Rezensionen, die ungepostet auf Halde liegen? *respekt*

      • Jaaa kannste ma sehen. Was ich so am Strand lese und Rezensions-Archive horte 😉 Nee ich hab in meinen vor-Blog-Zeiten recht altmodisch in Papier-Notizbuch hinein-rezensiert bis ich mich an die wilde Technik getraut habe. Die Bilder zu den jeweiligen Büchern habe ich schon länger gemacht.

        Nun pack ich ab und an mal eine Rezension mit Bild aus dem Papier-Notizbuch in den Blog. Alle Geheimnisse gelöst 😉

  2. Ich habe mir das Buch gekauft, ganz ohne große Erwartungen und bin nun gespannt auf die Lektüre. Es ist mein erster Gaiman, muss ich dazu sagen. Deine Besprechung hat auf jeden Fall Lust gemacht, alles andere stehen und liegen zu lassen und sofort zu dem Buch zu greifen.
    Danke dir. 🙂

    • Liebe Mara, ich hoffe, du bist schon mitten in den Ozean eingetaucht 😉 Ich behaupte mal kühn, dass du nach diesem Roman ALLES von Neil Gaiman lesen willst. „Neverwhere“, „American Gods“ …das waren alles Bücher, die mich durch meine Unizeit begleitet haben. Lange Zeit hab ich nichts mehr von dem Autor gelesen und „Der Ozean am Ende…“ zeigt, wie er als Erzähler gewachsen ist. Tatsächlich hat er auf der Lesung in Köln erzählt, dass er einige Passagen im Buch, in denen er brillante Perspektivwechsel vollführt, jetzt erst in der Lage war zu schreiben. Ich verneige mich!

  3. Eine schöne Rezension! Ich habe das Buch auch vor Kurzem gelesen – und obwohl ich eigentlich kaum noch fantastische Literatur lese, hat Neil Gaiman mich mit diesem wunderbaren Schauermärchen ganz in seinen Bann gezogen. Ich muss meine Gedanken dazu auch dringend mal aufs Papier bzw. den Rechner bringen. Vielen Dank für die Gedankenstütze ; )

  4. Ich habe das Buch als Hörbuch auf englisch begonnen, kam da aber nicht mit klar und habe es irgendwann abgebrochen. Ich werde es mir aber noch einmal als gedrucktes Buch auf deutsch holen.
    P.S. das mit den Rezensionen im Buch kennen ich auch. Hab da auch noch so einiges was abgetippt und gebloggt werden müsste 🙂
    Lieben Gruß

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