„Verzehrt“ von David Cronenberg

deep read_VerzehrtNachdem Filmregisseur David Cronenberg über die Jahre mehr mit Literaturverfilmungen wie „Naked Lunch“ (1991) oder „Cosmopolis“ (2012) von sich reden machte, kehrt der Kanadier in seinem ersten Roman Verzehrt zu seinen cineastischen Wurzeln, dem Body Horror, zurück. Bis heute hat Jeff Goldblums Metamorphose in „Die Fliege“ (1986) eine ähnlich verstörende Wirkung auf mich wie Gregor Samsas Verwandlung in ein Ungeziefer. Genauso verstörend gut ist „Verzehrt“. Wirklich eine Schande, dass Cronenberg erst jetzt, mit über 70, angefangen hat, zu schreiben!

Andererseits merkt man „Verzehrt“ an, dass sich sein Verfasser über Jahrzehnte damit beschäftigt hat, wie Technologien immer mehr zu Erweiterungen unseres Körpers werden. Ganz übertrieben könnte man behaupten, dass Cronenberg – zumindest in Teilen – den Kommentar auf unser global vernetztes Medienzeitalter geschrieben hat, den Dave Eggers mit „The Circle“ gerne abgeliefert hätte. Auch wenn es hier zugegebenermaßen nicht um Social Media geht, sondern um den Konsumismus in all seinen Formen und Facetten – vom Markenfetischismus bis hin zur kannibalistischen Selbstverzehrung, weshalb das englische Original auch „Consumed“ heißt.

Im Mittelpunkt steht das junge Journalisten-Paar Naomi und Nathan. Da sie ständig auf unterschiedlichen Kontinenten unterwegs sind, besteht der physische Anteil ihrer Beziehung vor allem aus flüchtigen Begegnungen in Hotelzimmern und subtilen Fährten, die sie sich in den Elektrogeschäften an internationalen Flughäfen hinterlassen. Beide gehören einer neuen Generation von Reportern an, die Fotograf, Videofilmer, Tonmann und Texter in einer Person sind. Dass Naomi für Nathan extra von Canon auf Nikon umgestiegen ist, damit sie gemeinsame Hardware nutzen können, gilt in dieser Welt als größter Liebesbeweis. Professionalität heißt für beide vor allem professionelle, sprich teure, technische Ausrüstung zu verwenden. Und auch für die Medien, denen sie ihre multimedialen Stories verkaufen, zählt die drastische Darstellung mehr als eine lupenreine Ethik.

Während Naomi in Paris einen Fall recherchiert, bei dem ein weltberühmter Philosoph seine Frau zerstückelt und aufgegessen haben soll, verfällt Nathan in Ungarn der todgeweihten Krebspatientin Dunja, die sich einem zwielichtigen Chirurgen für Forschungszwecke zur Verfügung stellt. Seltsame Zufälle (die vor allem eine längst in Vergessenheit geratene Geschlechtskrankheit beinhalten) führen Nathan wiederrum nach Toronto in das Haus des längst nicht mehr praktizierenden Arztes Dr. Roiphe. Dessen Tochter knipst sich gern mal mit der Nagelschere kleine Hautstückchen aus dem Körper, um sie dann mit einem Puppengeschirr zu verspeisen. Wie sich herausstellt, ist das Mädchen eine ehemalige Studentin des Pariser Philosophen – und noch mehr schwindelerregende Abgründe tun sich auf, die zeigen: Alles ist hier mit allem verwoben.

Ich muss wirklich sagen, dass ich ein Buch wie „Verzehrt“ noch nie gelesen habe – sowohl was die Story als auch den Erzählstil angeht. Während David Cronenberg im Kino eher zahm geworden ist, läuft er hier zu Höchstform auf, erzählt ultramodern und anachronistisch, intellektuell und unterhaltsam, anziehend und abstoßend zugleich. Bei all der Euphorie muss ich aber auch gestehen, dass die Erzählung stellenweise ziemlich abdriftet. Cronenberg hat acht Jahre lang zwischen Filmprojekten an diesem Debüt gearbeitet. Dabei hat er sich über den langen Zeitraum hinweg für meinen Geschmack um die ein oder andere Metaebene zu viel verstiegen, was ich ihm aber gern verzeihe in Anbetracht der Tatsache, dass er hier etwas Aufregendes wagt, das von viel kreativem Genie und sorgfältiger Vorbereitung zeugt.

Passende Begleitmusik zum Buch gefällig? Bitte schön…

 

 

 

6 Kommentare zu “„Verzehrt“ von David Cronenberg

  1. Liebe Karo,

    ich finde deine Besprechung wahnsinnig gelungen, ich glaube aber, dass dieses Buch für mich dann eher doch nichts ist. Ich hatte es schon mal in der Hand, es war mir dann aber doch zu … wirr vielleicht! Dies ist ein Buch, das ich wohl eher auslassen werde und doch habe ich mich sehr an deiner begeisterten Besprechung erfreut.

    Liebe Grüße
    Mara

    • Hach, liebe Mara, das ist doch wirklich mal ein Kompliment: Dass ich dich mit einen Text unterhalten konnte über ein Buch, dass du gar nicht lesen magst 😉 Merci!

  2. Cooler Song!
    Mir geht es wie Mara: großartige Besprechung, doch zum Buch werde ich eher nicht greifen. Aber es freut mich wirklich, dass ja doch ein bißchen mehr im Roman steckt (bisher hatte ich nur den Kommentar „echt eklig“ darüber gehört). Und dabei bin ich großer Fan seiner Filme – ganz besonders „Tödliche Versprechen“ und „Eine dunkle Begierde“. Vielen Dank also! Masuko

    • Oh ja, in dem Roman steckt sooo viel mehr: Was ich an Cronenberg schätze, ist, dass es ihm eigentlich nie um den Schock- oder Ekeleffekt an sich geht. Das ist immer nur Mittel zum Zweck und daher im Buch auch sehr gut auszuhalten, wie ich finde. Wenn ich daran denke, was heute in Filmen oder Thrillern an krasser Gewalt vorkommt, finde ich „Verzehrt“ regelrecht harmlos – aber da hat wohl jeder eine andere Schmerzgrenze 😉 LG

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