Zwei Buchtipps gegen Fernweh

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Zerfetzte Silvesterböller quellen im Rinnstein, verwaiste Weihnachtsbäume stehen am Straßenrand … die Festlichkeiten der letzten Wochen sind endgültig vorbei und sie beginnt wieder: die allertrostloseste Zeit des Jahres! Zwischen Januar und März, wenn es draußen einfach nur noch kalt, nass und grau ist, verfalle ich in ernsthafte Winterdepressionen. Es ist so schlimm, dass mein Mann sich einmal von mir eine Tageslichtlampe wünschte, damit nicht er, sondern ich sie doch bitte benutzen möge und ihn mit meiner schlechten Laune verschone.

Normalerweise hilft jetzt nur eins: Der Sonne entgegen reisen, möglichst weit, weit weg! Aber mir war schon immer klar, dass ich nicht der Typ für Fernreisen mit Baby im Gepäck bin. Die Alternative: In Gedanken mit anderen mitreisen, lesend. Am besten mal nicht zu It-Places wie Kalifornien oder Thailand, die alle gleichzeitig für sich entdecken, sondern dorthin, wo es die Massen nicht hinzieht. Beim DuMont Reiseverlag sind im letzten Herbst gleich zwei lesenswerte Reisereportagen erschienen, die mal wirklich an ungewöhnliche Orte führen.

deep-read_naechster-halt-steppeStephanie Karrass und Chris Tomas: Nächster Halt: Steppe. DuMont. 366 Seiten.

…oder hat irgendjemand von euch Kasachstan als Reiseland auf dem Schirm? Eben. Genau das hat die zwei Autorinnen gereizt. Außerdem wollte die Reisejournalistin Chris Tomas schon immer die Wüste Gobi sehen. Und wenn man dann schonmal so weit gekommen ist, kann man auch gleich noch bis Peking reisen, wo Stephanie Karrass ein Jahr lang beim Auslandsradio gearbeitet hat. Zehntausend Kilometer legen die beiden nur mit Bus und Bahn zurück.

Doch als sie zu Beginn ihres Abenteuers in Astana, der kasachischen Hauptstadt, aus dem Flieger steigen, erleben sie erstmal eine Überraschung: Statt Steppe, ein glitzerndes Las Vegas von gigantischem Ausmaß. Sie erleben einen jungen Staat in Aufbruchstimmung, der danach bestrebt ist, alles aufzuholen, was während Sowjetzeiten nicht möglich war. Es wird tatsächlich eine Weile dauern, bis sie zum ersten Mal den Zauber der grenzenlosen Steppe erleben und es wird wider Erwarten bei einem kurzen Busstopp im Nirgendwo sein. Überhaupt läuft nicht alles so wie geplant. Die Gastfreundschaft der Menschen ist überwältigend, aber manchmal auch erdrückend. Was? Ihr wollt einfach so in der Gegend rumlaufen? Ist doch voll langweilig! Ihr kommt jetzt mit uns an den Strand picknicken! Widerworte zwecklos.

Vor allem stellen die beiden Abenteurerinnen fest, dass Kasachstan und China nicht unterschiedlicher sein könnten. „Wir sind erst zwei Tage in diesem Land und schon vermisse ich Kasachstans Schlaglöcher in den Straßen, das Unvollkommene, die Offenheit für jede Entwicklung. China, so scheint mir, hat einen Plan, dem alle zu folgen haben.“ Absurde Gepäckkontrollen und unfreiwillige Kaffeefahrten – sich frei im Land zu bewegen, scheint schier unmöglich. Da möchte man nicht unbedingt selbst dabei sein, es liest sich jedoch sehr unterhaltsam. Und gerade dieser Kontrast beider Länder ist dann sehr spannend zu erfahren. Ein sehr ehrlicher Reisebericht, mit amüsanten, turbulenten und manchmal auch sehr poetischen Momenten. Und der Erkenntnis: Es kommt alles anders, als man denkt.

deep-read_an-guten-tagenSören Kittel: An guten Tagen siehst du den Norden. DuMont. 384 Seiten.

Ich war nur einmal in meinem Leben für sehr kurze Zeit in Seoul. Aber diese kurze Zeit sollte eine prägende Erfahrung werden, die mich bis heute nicht los lässt. Ein seltsames Gefühl von gleichzeitiger Vertrautheit und Fremdheit. Denn es ist so: Wenn man in dieser Metropole ankommt, denkt man zunächst einmal wie ähnlich alles zu Europa ist. Das Klima, die Architektur, die Mode … und dann schleichen sich immer mehr kleine Irritationen ein, bis man sich wie ein Alien auf einem anderen Planeten fühlt. Ich meine nicht nur die Sprache, sondern Irritationen, die so subtil sind, das man sie kaum benennen kann z.B. wie emotionslos die Menschen in der U-Bahn wirken.

Deshalb war die Lektüre von Sören Kittels Reisereportage ein einziges großes Aha-Erlebnis für mich. Der Journalist und Südostasienwissenschaftler lebte eineinhalb Jahre lang in Seoul. Von hier aus bereiste er das ganze Land und seine Inseln, Denkmäler, Kultstätten und Attraktionen. Er übernachtet in Love Motels, lernt von einer Tempelkatze, was es heißt, im Moment zu leben, erfährt vom grausigen Amoklauf eines Dorfpolizisten, ergründet die Seele des koreanischen Films oder besucht eine Schule, in der die Schüler das Rentenalter bereits weit überschritten haben. Und stets fragt er die Menschen, denen er begegnet: Was ist Han für dich? Han, das hat er an seinem zweiten Abend in Seoul gelernt, ist ein Gefühl, das nur Koreaner kennen. Eine „Form von universeller Traurigkeit“ wie bei „einem Knoten, der sich niemals lösen wird“ — oder vielleicht auch wie die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Nordkorea, das man an guten Tagen von der Küste aus sehen kann, scheinbar nah und doch so fern.

Das Buch bringt einem auf vielfältige, gut recherchierte (da selbst erlebte) Art und Weise Land und Leute näher. Für meinen Geschmack ist es sogar etwas zu ausführlich geraten, vor allem was die politische Geschichte angeht. Sowas vergesse ich gleich beim Lesen wieder. Aber Kittels oft zufälligen Begegnungen und Gespräche mit den Menschen, ihre Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne, Individualität und Konformismus, Aufbegehren und Pflichtbewusstsein, bleibt hängen.

4 Kommentare zu “Zwei Buchtipps gegen Fernweh

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