„Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf…“ von Antonia Baum

deep read_Ich wuchs auf einem Schrottplatz aufWenn ich Artikel von Antonia Baum im Feuilleton der FAS lese, schwanke ich immer zwischen Entsetzen und Bewunderung angesichts ihres mega-subjektiven „Das find ich geil, weil is‘ halt geil“-Journalismus (was jetzt natürlich sehr überspitzt formuliert ist). Darf man das im seriösen Zeitungsgeschäft? Joa, schon irgendwie, geht ja um Meinung. Und die hat Antonia Baum. Egal, ob es um die Gefährlichkeit von Heidi Klum geht oder die Großartigkeit von Straßenrapper Haftbefehl. Auch der Titel ihres zweiten Romans ist eine abgewandelte Zeile aus einem Hip-Hop-Track, nämlich von der Westberliner Crew Masters of Rap: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren. Und da, muss ich sagen, hat mich Baums furchtlose „Bähm! In your face“-Attitude total überzeugt.

Es geht nämlich um einen Vater und seine drei Kinder, die sich wenig darum scheren, was andere von ihnen halten. Eine Akademiker-Familie, in der die blaue Phase von Picasso diskutiert wird, man Hahnenkämpfen, Autoschieberei und Kunstbetrug gegenüber aber auch nicht abgeneigt ist. In der die Kinder zwar wenig Zeit in der Schule, aber dafür viel Zeit in Wettbuden, Kneipen oder auf dem Schrottplatz verbringen. Wo Vater Theodor viel Geld für seine Autos ausgibt, seinen Kindern aber nur Klamotten von Aldi kauft. In der sich die Geschwister, Johnny, Clint und Romy, selbst erziehen müssen, weil Theodor behauptet, er habe sich auch selbst erzogen, ganz ohne fremde Hilfe. Eine Mutter gibt es in dieser Familie nicht, dafür aber einen liebevoll umsorgenden Schutzgelderpresser, der putzt, kocht und den drei Geschwistern Lebensweisheiten mit auf den Weg gibt wie diese:

„Niemand interessiert, warum man nicht gesellschaftlich sein will. Sie interessiert nur, dass man es nicht ist. Wenn man drin sein will, muss man mitmachen, verstehst du? Sonst muss man sich verpissen. Und ich schwöre dir, es interessiert niemand. Das Leben ist nicht gerecht, verstehst du? Tut mir sehr leid, aber so ist es.“

Ist so. Man ist entweder Vollasi oder Bonze, Ghetto oder Uni – dazwischen hat man in dieser Gesellschaft nicht viel zu sein. In der Hip-Hop-Szene, die Antonia Baum so liebt, werden diese Denkschema in letzter Zeit immer mehr aufgebrochen. Straßengangster Hafti wird zum Dichter erhoben, der die deutsche Sprache revolutioniert, die Ironie in den Diss-Reimen von K.I.Z. versteht nur, wer ein gewisses Maß an eigener intellektueller Denkleistung aufbringt und die Antilopen Gang klingt zwar häufig so, als hätten die Jungs Migrationshintergrund, dabei kommen sie aus gutbürgerlichen Verhältnissen.

Dieses Spiel mit gesellschaftlichen Erwartungen und sozio-kulturellen Klischees findet sich auch im Roman von Antonia Baum wieder, der keine Aufforderung zur Verwahrlosung und Kriminalität ist, sondern dazu, Provokationen, Brüche und Ungereimtheiten zuzulassen. Die sind nämlich herzlich unerwünscht, und zwar nirgendwo so sehr wie in der Kindererziehung. Abgetragene Klamotten? Flodder. Unordentliche Wohnung? Flodder. Große Klappe? Flodder. Die Einzige in der Familie, die das schon früh begreift, ist Romy: „Dann steht irgendwann echt das Jugendamt vor der Tür und nimmt uns Theodor weg, der dann ganz alleine ist.“ Aber Theodor wird mit Gangstern, Schlägern und Verrückten fertig, da schafft er es auch, das Jugendamt immer wieder einzuwickeln.

Was den Roman also besonders reizvoll macht, ist wie hier auf Handlungs- und Metaebene dasselbe Thema verhandelt wird: Nämlich, dass es heutzutage kaum möglich ist, aus dem Mainstream auszubrechen. Wer keinen Bock hat, wie alle anderen zu sein, ist draußen. Weil für Charaktere wie in der Geschichte also eh kein Platz in der Gesellschaft ist, sie schlicht gar nicht existieren können, kann man sie auch gleich maßlos überzeichnen. Die Kinder prügeln, dealen, klauen (als Überlebensstrategie), der Vater flucht, lügt und betrügt (aus Spaß). Ist der Ruf erst ruiniert … am Ende hat man die Figuren trotzdem so unglaublich gern, dass man sich wünscht, man wäre auch ein bisschen asozialer. Nur ein bisschen.

11 Kommentare zu “„Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf…“ von Antonia Baum

  1. Hmmm klingt wirklich gut Deine Rezension und macht total Lust auf das Buch. Glaubst Du es könnte mir gefallen, auch wenn ich mit Sprechgesang-Kapellen so rein gar nix anfangen kann ????

    • Also ich würde ganz ehrlich sagen, wenn ich glauben würde, dass es dir nicht gefällt. Es kommt auch gar kein Hip Hop drin vor, das ist mehr so der Überbau bzw. meine Interpretation 🙂 Von daher könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass es dir gefällt, weil es wirklich modern, frisch und mal was ganz anderes ist. Eigentlich wie Kapitän Langstrumpf und seine Pipi auf Speed 🙂

    • Oh Mist, ich dachte, das wäre nur bei mir so 😦 Hab seid einer Woche ein Ersatz-Notebook, weil das alte geschrottet ist, und da ist irgendwas mit den Einstellungen nicht in Ordnung. Versuche das zu beheben! Super, dass du Bescheid gesagt hast. Danke!

      • Und ich höre bei dem Wort „Lollipop“ wirklich immer im Kopf diesen alten Schlager von The Chordettes. So, aber das Problem müsste jetzt behoben sein! Nochmal echt lieben Dank für den Hinweis!

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