„Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel

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Oh ha, ich sollte wirklich nicht so lange rumbummeln, um über Bücher zu schreiben, die ich bereits vor Wochen gelesen habe. Anyway. Das Licht der letzten Tage von Emily St. John Mandel ist mir selbst nach so langer Zeit erstaunlich lebhaft in meinem kleinen Goldfischgedächtnis geblieben. Weil dieser Roman so ganz anders ist als der andere durchgedrehte Postapokalypse-Wahnsinn. Keine Zombies, keine Aliens, keine Naturkatastrophen. Stattdessen: Ruhige Töne und ein melancholisches Nachsinnen über die Bedeutung von Ruhm, die Zerbrechlichkeit unserer Welt und die Wunder der Technik, die wir nicht mehr sehen, weil wir sie für selbstverständlich nehmen.

Aber das sind sie nicht. Wenn niemand mehr da ist, um unsere Kraftwerke zu betreiben oder nach Öl zu bohren, dann sind unsere modernen Errungenschaften einfach nur nutzlos und wir fallen zurück ins früheste Entwicklungszeitalter. Smartphones und Kreditkarten werden zu Museumsgegenständen, Flugzeuge und Fast-Food-Restaurants zu Wohnhäusern und das Internet zu einer Legende über die die Älteren den Jüngeren erzählen. Mandel zeichnet eine so detailliert schillernde Zukunftsversion, dass man glaubt, es könnte morgen schon so weit sein.

Die Schlüsselszene des Romans dokumentiert die Schwelle, die die Zeit in ein Davor und ein Danach teilt. An einem Winterabend im Elgin Theatre in Toronto erleidet der berühmte Hollywood-Schauspieler Arthur Leander mitten im 4. Akt des King Lear einen Herzinfarkt. Es ist das Ende eines bewegten Lebens, eines Hinterherjagens nach Geld, Ruhm und Unsterblichkeit. Nur etwa 24 Stunden wird es dauern, bis die Schlagzeile über seinen Tod vergessen sein wird. 24 Stunden bis eine globale Grippe-Pandemie ausbricht. Danach gibt es keine Zeitungen oder Fernsehsender mehr, die Schlagzeilen produzieren könnten. Etwa 99 Prozent der Menschheit ist tot.

„Es gab unendlich vieles aus der Welt vor dem Zusammenbruch, woran Kirsten sich nicht mehr erinnern konnte – ihre Adresse, das Gesicht ihrer Mutter, die Fernsehsendungen, von denen August ständig redete -, aber an Arthur Leander konnte sie sich erinnern,…“

Der Roman erzählt auf verschiedenen Zeitebenen die Geschichte einer Handvoll Menschen, die Arthur Leander persönlich gekannt haben und dadurch auf schicksalhafte Weise miteinander verbunden sind. Kirsten, die als Kind ebenfalls bei der King Lear-Aufführung im Elgin Theater mitgewirkt hat, und 20 Jahre später mit einer Truppe von Musikern und Schauspielern durch die zersprengten Siedlungen um den Lake Michigan See zieht, um weiterhin Shakespeare-Stücke für die Überlebenden aufzuführen. Jeevan, ein Ex-Paparazzi, der den zivilisatorischen Zusammenbruch aus dem 45. Stock eines Wolkenkratzers beobachtet und dabei ständig an den R.E.M.-Song „It’s the end of the world as we know it“ denken muss. Miranda, Arthur Leanders erste Ehefrau, die ihr Leben lang an einer Comicserie arbeitet, die zwar nie veröffentlicht wird, den Weltuntergang aber dennoch überdauert. Held des Comics ist der Physiker Dr. Eleven, der auf einer Raumstation lebt, deren künstlicher Himmel einen permanenten Sonnenuntergang simuliert – das Licht der letzten Tage.

„Was beim Zusammenbruch verloren ging: So gut wie alles, so gut wie alle, aber es ist immer noch so viel Schönheit geblieben.“

Was bleibt von uns übrig, wenn man uns alles nimmt? In Mandels Roman lautet die vorsichtig optimistische Antwort: Menschlichkeit, Erinnerungen und nicht zuletzt die Kunst. „Überleben allein ist unzureichend“ hat sich die Theatertruppe, mit der Kirsten durch die Lande zieht, zum Motto gemacht. Kein Satz aus Shakespeare, sondern aus der Fernsehserie „Star Trek: Voyager“. Überall ist Schönheit und Wahrheit zu finden, nicht nur in der Weltliteratur, sondern auch in den banalsten Stoffen – wenn man sie nur entdeckt. Auf filigrane Weise verwebt die Autorin Science Fiction, Popkultur und klassisches Drama miteinander. Das einzige, was man diesem Roman vorwerfen könnte, ist, dass die Art wie hier alles mit allem zusammenhängt etwas sehr Artifizielles hat. Gleichzeitig fasziniert diese durchdachte Perfektion aber auch. Alles macht am Ende einen Sinn. Weil wir Menschen uns nach Bedeutung sehnen. Und so klappt man diesen Roman nach 400 Seiten zu und ist unglaublich einverstanden, zuversichtlich, getröstet. Und dass, obwohl gerade die Welt untergegangen ist.

10 Kommentare zu “„Das Licht der letzten Tage“ von Emily St. John Mandel

    • Ich muss ja sagen, dass ich ausnahmsweise den deutschen Titel sehr viel besser finde als „Station Eleven“, weil er irgendwie aussagekräftiger ist. Übrigens ist das ein Roman, den du sehr gut parallel zu anderen Büchern lesen kann, weil die Kapitel immer wieder sehr schöne Schlusspunkte setzen. Das fand ich durchaus angenehm…viel Spaß damit!

    • Unbedingt! Das Buch wird dich überraschen – vor allem, weil es keine Dystopie im eigentlichen Sinne ist. Keine Unterdrückung, keine Schreckensherrschaft, sondern einfach ganz normale Menschen, die lernen müssen, wieder zu leben statt nur zu überleben. Das fand ich spannend 🙂

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