„White Tears“ von Hari Kunzru

„Nenn mich nicht Becky“ motzte die australische Rapperin Iggy Azalea letztes Jahr erbost auf Twitter. „Becky“ sei ein stereotyper Name für eine weiße Frau und damit eine rassistische Beleidigung. Eine interessante Äußerung von jemandem, der sich selbst gerne afroamerikanischer Hip-Hop-Stereotypen bedient, um Platten zu verkaufen, und sich gleichzeitig selbst als die „Realste“ bezeichnet. So, wie komm ich da jetzt drauf? Weil Iggy Azalea im Zusammenhang mit dem Becky-Beef #whitetears vorgeworfen wurden (man könnte auch „Krokodilstränen“ sagen) und White Tears heißt eben auch der wahnsinnig coole Thriller von Hari Kunzru. Ein Thriller, der eiskalt das immer noch geltende Herrschaftsdenken in den USA entlarvt: früher nahm die weiße Elite den Schwarzen die Freiheit weg, heute ihre Kultur.

„Wir hatten das Gefühl, dass unsere Liebe zur Musik uns das Recht verlieh, schwarz zu sein, aber als wir dann später nach New York gingen, redeten wir nicht mehr darüber. Wir wollten nicht, dass man uns für weiße Vorstadtkids hielt, die Bilder mit Starkbier-Flaschen und Gangposen von sich posteten.“

Die zwei jungen weißen Musikproduzenten Carter und Seth stehen auf Blues und Vinyl. Beides ist für sie der Inbegriff der Authentizität. In ihrem super schicken Tonstudio in New York frickeln sie einen Song namens Graveyard Blues zusammen, der zwar wie ein Original aus den 1920ern klingt, aber ganz und gar nicht authentisch ist. Das Stück basiert auf einer Aufnahme, die Seth im Washington Square Park mitgeschnitten hat. Ein schwarzer Schachspieler, der ein paar Blues-Zeilen singt. Sie geben dem unbekannten Sänger den erfundenen Namen Charlie Shaw und stellen die geklaute Fake-Nummer ins Netz. Als ein alter Plattensammler behauptet, Charlie Shaw habe wirklich gelebt, geraten die Dinge außer Kontrolle.

„White Tears“ erscheint zum passenden Zeitpunkt einer Diskussion, die seit der Obama-Regierung in den USA immer lauter wird: Egal ob in der Musik- oder Filmindustrie, überall fahren weiße Künstler große kommerzielle Erfolge ein, indem sie afroamerikanische Wahrzeichen imitieren. Zuletzt wurde beispielsweise an dem Musicalfilm „La La Land“ Kritik geübt, in dem der weiße Filmheld gespielt von Ryan Gosling seinen schwarzen Musikerkollegen den Jazz erklärt – den Schwarze erfunden haben. So wird Geschichte von Hollywood einfach mal umgeschrieben.

Hari Kunzrus Ausnahmeroman führt in die irre Parallelwelt der Blues-Sammler, in der sich der Marktwert einer Platte an ihrem Seltenheitswert misst. Man spricht in Katalognummern, weil die schwarzen Musiker, die auf den Aufnahmen zu hören sind, teilweise so unbekannt sind, dass man nicht mal ihre echten Namen kennt.

„Patton, Son House, Willie McTell, Robert Johnson, Willie Johnson, Skip James, John Hurt … Das waren die Namen, die unter Sammlern gehandelt wurden, aber niemand schien etwas über sie zu wissen. Es gab keine Informationen, nichts. Diese Leute waren Geister an den Rändern des amerikanischen Bewusstseins. Und wenn ich niemand sage, dann meine ich niemand. Man konnte das nicht einfach in Büchern nachlesen. Man bekam es gar nicht mit. Und dann war es verschwunden. Musiker verschwanden.“

Doch der Geist von Charlie Shaw will, dass seine Geschichte gehört wird. Sie handelt von rassistischer Polizeigewalt, Justizwillkür und einem Gefängnissystem, das seine Insassen wie Sklaven behandelt. Nicht viel anders als heute. Denn schwarze Identität ist nicht nur cool und funky, sondern schwarze Identität heißt in den USA auch immer noch Kriminalisierung und Chancenungleichheit. Und das 50 Jahre nach Aufhebung der Rassentrennung. Wer übrigens mehr darüber erfahren möchte, wie die Sklaverei durch das perfide System der Masseninhaftierung in den USA abgelöst wurde, der sollte sich unbedingt die preisgekrönte Netflix-Doku „13th“ von Ava Duvernay anschauen.

Abgesehen von seiner politischen Sprengkraft ist „White Tears“ aber einfach ein wahnsinnig lässig und zugleich elegant geschriebener Spannungsroman, der in der ersten Hälfte sehr harmlos und konventionell daherkommt und dann in der zweiten Hälfte richtig alptraumhaft und experimentell wird. Hari Kunzru spielt wirklich geschickt mit den Nerven und dem Verstand der Leser. Ob der Geist von Charlie Shaw wirklich auferstanden ist oder es sich vielleicht nur um eine psychotische Fantasie handelt? Mich hat der Roman jedenfalls noch lange nach dem Lesen elektrisiert.

Abschließend dann noch – nach langer Abstinenz dieser Rubrik – ein Soundtrack zum Buch. Nee, kein Blues, aber aktuell und zum Thema passend. Denn auf dem aktuellen Album „All-Amerikkkan Badass“ von East Coast Rapper Joey Badass wird der institutionalisierte Rassismus im angeblichen Land of the Free fast in jedem Track hart angeprangert. Mein Liebling ist „Rockabye Baby“, denn ja, auch eine brave Becky wie ich steht auf einen darken Gangsta-Beat.

 

 

 

 

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