„Ein Herz für die Freiheit“ von Chai Ling

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In den vergangenen 22 Jahren sind viele Berichte über das Tian’anmen-Massaker veröffentlicht worden. Damals wurden um die 3.000 chinesische Studenten auf dem Tian’anmen, dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, vom Militär niedergemetzelt. In den Berichten begegnet man immer wieder dem Namen Chai Ling, deren Rolle als einzige weibliche Anführerin der studentischen Demokratie-Bewegung durchaus umstritten ist. In ihrer Autobiographie Ein Herz für die Freiheit meldet sich Chai Ling nun erstmals selbst zu Wort, um die tragischen Ereignisse, die sich vor und nach dem 04. Juni 1989, ereignet haben, aus ihrer Sicht zu schildern. Es ist die unglaubliche Lebensgeschichte einer Chinesin, die sich von einer angepassten Musterschülerin zur starken Kämpferin für ein freies und demokratisches China gewandelt hat.

Als Chai Ling am ersten Jahrestag des Tian’anmen-Massakers auf dem New Yorker Flughafen landet, wird sie mit den Worten umjubelt: „Da kommt die Göttin der Demokratie!“ Sie wird für den Friedensnobelpreis nominiert und hält Reden auf Konferenzen, bei denen auch Ex-Präsident Jimmy Carter und Nelson Mandela zu Gast sind. Später wird sich der anfängliche Überschwang in mediale Feindseligkeit wandeln, die in der Frage gipfelt: „Warum sind alle außer Ihnen gestorben?“ Der Vorwurf, die versammelten Demonstranten als Oberkommandierende des Hauptquartiers zur Verteidigung des Tian’anmen-Platzes wissentlich in den Tod geführt zu haben, weist Chai Ling in ihrem Buch entschieden zurück. Trotzdem quält sie lange Zeit die Schuld der Überlebenden.

Eindrücklich schildert die Chinesin in ihrer Autobiographie, die sich so spannend und abenteuerlich wie ein Roman liest, wie eine Verkettung von Schicksalsschlägen und Zufällen sie von der strebsamen Einser-Schülerin zur politisch denkenden Revoluzzerin veränderte. Zudem lernt man unglaublich viel über die schwierigen Lebensbedingungen junger Menschen in der kommunistischen Diktatur China.

In den 1980ern bildet die Beida, die Pekinger Elite-Universität, ein pulsierendes Zentrum für eine liberaler denkende Gesellschaft. Insbesondere junge Leute äußern zunehmend auch kritische Gedanken. Hier blüht das Provinzmädchen Chai Ling weit weg von der strengen Kontrolle durch ihre Eltern auf. Das gewalttätige Auftreten der Staatspolizei gegenüber friedlich demonstrierender Studenten beim Staatsbegräbnis des gestürzten Parteichefs Hu Yaobang, dem führenden Vertreter des Wandels und der Demokratie, erschüttert Chai Ling und ihre Kommilitonen zutiefst. Sie beginnen, sich für die Einführung grundlegender demokratische Verfahren und gegen Korruption einzusetzen. Indem die regierende Kommunistische Partei die Reformbemühungen als „antirevolutionäre Verschwörung“ bezeichnet, veränderte das den Protest grundlegend, er wird zu einer Volksbewegung gegen das Regime.

Chai Ling macht nachvollziehbar, warum junge Chinesen die Besetzung des Platz des Himmlischen Friedens unter Einsatz ihres Lebens durchgezogen haben. Sie beschreibt den Ausnahemzustand, die Zersplitterung der Gruppe, die Unsicherheit der Informationslage, die hohen Erwartungen an die Studentenführer und ihre Entscheidungen. Als die Armee beginnt, die friedlichen Demonstranten mit Gewehren und Panzern anzugreifen, ist die Situation chaotisch und unübersichtlich. Chai Ling versucht, die Studenten zur Flucht zu bewegen und wird selbst mit dem Strom der Flüchtenden mitgerissen. Die blutige Niederschlagung des Protests bekommt sie nur am Rande mit.

Das Tian’anmen-Massakes bildet zwar die höchste Eskalationsstufe und den Mittelpunkt dieser Autobiographie, trotzdem nehmen die unterschiedlichen Lebensstationen von Chai Ling zu gleichen Teilen die 400 Seiten des Buches ein. Ebenso beeindruckend zu lesen ist die traumatische Erfahrung der Abtreibungspraxis in China, die aus der Ein-Kind-Politik entstanden ist, sowie Chai Lings Erfahrungen als politischer Flüchling in den USA. Der schwierige Prozess, sich in einem fremden Land mit fremder Kultur ein neues Leben aufzubauen. Heute ist Chai Ling mit einem Amerikaner verheiratet, Mutter von drei Töchtern, leitet erfolgreich das Softwareunternehmen Jenzabar Inc. und setzt sich mit ihrer Initiative „All Girls Allowed“ für ein menschenwürdiges Leben chinesischer Mädchen und Frauen ein. Und sie hat zu Jesus gefunden. In dieser Hinsicht sollte man als Leser gewappnet sein: Chai Ling betreibt zwar keine direkte Bekehrungsarbeit an ihrem Leser, wird aber gerade im letzten Buch-Drittel nicht müde, von ihrer eigenen Berufung zur  Christin durch Bibel und Kirche zu schwärmen. Dieser Feuereifer gipfelt dann in dem Satz: „Ich glaube inzwischen, dass der Einzug des Christentums in China der Schlüssel zur offenen Demokratie ist.“ Das spiegelt jetzt sicher nicht jedermanns Meinung wider. Aber Nächstenliebe, Friedensbereitschaft und Gleichberechtigung sind mit Sicherheit Werte, die China zu wünschen sind.

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