„Giraffen“ von Anne Philippi

deep read_GiraffenBerlinromane sind leider ebenso verbreitet und lästig wie Herpes. Denn wenn wir mal ehrlich sind, braucht außerhalb der Hauptstadt kein Mensch Berlinromane. Aber ab und zu kommt dann doch jemand daher, der zeigt, wie das geht, einen Berlinroman schreiben, der maximal notwendig ist! Und nö, Anne Philippi ist nicht 1992 geboren und Tochter eines Theaterschaffenden. Gerade nicht. Die Frau hat Lindsay Lohan und Jeff Bridges in Los Angeles interviewt, da haben andere noch unbezahlte Praktika beim Stadtanzeiger gemacht. Und mit diesem Abstand der abgeklärten Glamour-Reporterin hat Philippi ihren Berlinroman Giraffen geschrieben, der nicht wegen der darin enthaltenden Party-Drogen-Exzesse so krass aus der Reihe danct, sondern wegen seiner großen literarischen Qualität.

Aber wieso Giraffen? Den Spitznamen haben die langbeinigen Blondinen verpasst bekommen, die in den 1960ern mit Playboy Gunter Sachs den Strand von St. Tropez unsicher gemacht haben. Die Giraffe lässt sich ihre Gesellschaft nicht mit Geld bezahlen, sondern mit Appartments, Dinners, Kleidern, Reisen, Luxus eben. Sie schläft auch nicht mit vielen Männern gleichzeitig, sondern zieht von Wasserstelle zu Wasserstelle. Ich-Erzählerin Eva wäre gern eine Giraffe, ist sie aber nicht. Denn sie hat den Absprung nicht geschafft. Sie ist hängen geblieben auf Henry. „Ein echtes britisches »Trust Fund Baby«, ein Glücksgriff.“ Vielleicht ist es sogar Liebe, zumindest nach einer Flasche Rotwein. Henry ist reich, alt, aber gutaussehend auf Pierce-Brosnan-mäßige Weise, Alkoholiker, Kokser, Partyanimal. Eva ist die Co-Abhängige, eine Soldatin, passenderweise in Militärjacke so wie Mitte-Mädchen halt aussehen.

„ich habe Disziplin, ich mache weiter. Ich erforsche alles. Bis es nicht mehr geht.“

Und es geht schon lange nicht mehr. Trotzdem wird fünf Tage die Woche hart gefeiert so wie andere zur Arbeit gehen. Schlafen ist nicht, denn „Ohne Schlaf ist alles wahr. Kaltes Wasser kälter, Gefühlsäußerungen dramatischer, Orgasmen heftiger, das Küssen brutaler. Kurz vor dem Umkippen ist alles schöner.“ Und darum gehts: Ums Umkippen oder auch Abstürzen. Henry, Eva und die anderen Feierwütigen in der „Ausflippungsmetropole“ liefern sich einen verbissenen Kampf darum, wer sich härter zerstört, als ob es eine Medaille zu gewinnen gäbe. Die beiden taumeln in einer schwindelerregenden Tour de Force von einer Party zur nächsten, von Sauf- und Shoppingtouren ins siffige Pornokino und noch siffigere Clubtoiletten. Zum Runterkommen sind die Taxifahrten da, zum Fitwerden gibts Vitaminspritzen.

Wer so viel liest wie ich, der kann sich immer seltener für ein Buch so richtig begeistern. Traurig, aber wahr. Beim Lesen von „Giraffen“ habe ich es wieder gespürt, dieses Kribbeln, das Sprache auslösen kann. Dabei wirkt es bei Philippi so einfach wie sich eine Zigarette anzünden. Eine Sprache erzeugen, die auf unwiderstehliche Art im Hier und Jetzt klingt. Und dabei völlig ohne Facebook-Digitalismus auskommt. Ich-Erzählerin Eva lebt in einem Wirrwarr aus Einsamkeit und Selbsttäuschung, das in eine Sprache übersetzt wird, die genau diese Dissonanz fulminant abbildet. Und dabei handelt es sich nicht um die Autorin, die hier spricht, sondern ganz klar um ein Rollen-Ich – leider muss man sowas ja heutzutage besonders erwähnen.

Vielleicht hat mich der Roman ja auch deshalb so gekickt, weil mich genau wie Anne Philippi diese ewigen Mädchen wie Eva wahnsinnig interessieren, irgendwo zwischen Faszination und Kopfschütteln. Diese Borderline-Grazien, mehr Kate Moss als Christiane F., die keine Grenzen kennen, alles mitnehmen, jede Party-Erfahrung gemacht haben wollen, egal wie kaputt, erniedrigend oder idiotisch. Aber was, wenn man beim Tanz am Abgrund in die falsche Richtung abrutscht? Wenn man die Situation nicht beherrscht, sondern die Situation einen selbst. Wenn dabei tiefe Schneisen in die Psyche und Identität geschlagen werden, so wie bei Ich-Erzählerin Eva:

„Wir waren nicht mehr fünfundzwanzig. Wir waren sechsunddreißig. Wir ignorierten unsere Jahre. Wir taten so, als ob es für immer okay wäre, wegen Eisenmangels in Ohnmacht zu fallen, mit Gespenstergesichtern durch die Ackerstraße zu laufen. Wir hatten nichts vorzuweisen. Keine Produkte, keine Kinder, keine Haltung, keine Stimme. Nur eine Stimmung. Und auf die konnte sich wirklich niemand verlassen.“

Indem Eva sagt „wir taten, als ob“ wird der Selbstbetrug ganz offensichtlich. Und deshalb wünscht man ihr auch von Herzen, dass sie wie Alice wieder aus dem Kaninchenbau findet, weil hinter all der Zugedröhntheit ein rasiermesserscharfer Verstand steckt, der nur mal wieder nüchtern werden müsste.

Ebenfalls aus der Hauptstadt kommt die Formation TÜSN. Warnung: Ihre Feierhymne „Schwarzmarkt“ macht süchtig!!!! Dazu würde auch Romanheldin Eva sicher abgehen 🙂

8 Kommentare zu “„Giraffen“ von Anne Philippi

  1. Danke *seufz* und wieder eins mehr auf dem Wunschzettel 😉 Macht riesige Lust auf das Buch Deine Rezension. Tüsn hat nicht geklappt, aber muss ja auch nicht immer. Greetings!

  2. Hallo Karo, auch ich kann als Berliner die Mehrzahl der Berlinromane selten wirklich ausstehen. Doch der klingt, so wie Du ihn besprichst, wirklich interessant. (Ganz anders übrigens als »Otis« von Jochen Distelmeyer. Lass die Finger davon, Du wirst zutiefst enttäuscht sein. Ich hoffe Die Warnung kommt nicht zu spät?)
    »Giraffen« jedenfalls ist vorgemerkt. Danke.
    lg_jochen

  3. Hallo Karo vielen Dank für deine überraschend positive Rezension. Ich habe selten eine solch unliteraische Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen und Wiederholungen in der Wortwahl gehört wie heute bei der Lesung von Frau Philippi in Köln. Ebenso überrascht wie über deine Begeisterung zu diesem Kurzroman, war ich über die Gleichförmigkeit und Emotionslosigkeit mit der die Autorin vorlas. Nur noch zu überbieten von der Arroganz mit der sie das Publikum weder begrüßte noch sich bedankte oder verabschiedete, geschweige denn das Publikum eines Blickes würdigte. Von einer Autorin mit einer solchen Vita überraschend👎👎👎

    • Hi Schnaudt, jetzt hälst du mich bestimmt für komplett unzurechnungsfähig, dass ich den Roman so feiere 😉 Aber ich bleibe bei meiner Meinung: Bis jetzt ist „Giraffen“ immer noch der beste Roman, den ich bisher dieses Jahr gelesen habe. Bei mir hat er einfach einen Nerv getroffen, weil er viel darüber aussagt, wie Partymädchen wahrgenommen werden und vor allem – fast noch wichtiger – wie sie sich selbst wahrnehmen.
      Ich denke, Anne Philippi wollte durch ihre, wie du schreibst, „emotionslose“ Art des Lesens widergeben, wie emotionslos sich ihre Ich-Erzählerin fühlt. Ich habe es jedenfalls nicht so krass empfunden wie du.
      Mmh, und vielleicht ist es auch für eine gestandene Journalistin seltsam auf einmal in der Rolle der Interviewten zu stecken. Arroganz ist meist eine Form von Unsicherheit…wir sind ja alle nur Menschen.Lg,Karo

  4. Hallo Karo,

    Nein, um die Frage nach deiner Unzurechnungsfähigkeit zu beantworten, ich respektiere deine Meinung und schätze deine Kompetenz. Und ja, anfangs hatte ich auch den entschuldigenden Gedanken der Unsicheren Vorleserin. Die sich hinter dem Vorhang der Arroganz versteckende introvertierte Journalistin. Doch nicht ein Blick, kein Lächeln wurde an die Intressierten Zuhörer verschwendet. Wir wurden nicht wahr genommen, denn wir waren nicht wichtig. Klaquere nur, mehr nicht.

    Partymädchen, Junge Frauen, Girlis mit oder ohne Geld. Ich kenne sie. Ich kenne die Szene, ich kenne die Substanzen, die Gedanken. Ich bin dem entkommen vor Jahren, Jahrzehnten. Und war total gespannt auf das Buch. Und Ultra enttäuscht. Allgemeinplätze. 👎👎👎

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